Die Formenwelt von Annette Tucholke lebt von Assoziationen, Analogien und vom Spiel mit ihnen. Es ist wie jede künstlerische Arbeit eine Formbemühung “parallel zur Natur”, wenn man will, mit den Mitteln der Tischlerei und Schlosserei. “Und zum Teil / hantieren wir ein bißchen mit dem Beil”, reimte auch Brecht. Ein vertrauen auf das Sichtbare, auf die Logik und Originalität der Erscheinung und der eigenen Wahrnehmung liegt dem zugrunde. Die Intelligenz und Qualität zeigt sich – vielleicht nicht auf den ersten Blick – im Umgang mit den Maßen und Materialien, also im Technischen, aber auch in den Wirkungen. Das Spiel mit dem technischen Arbeitsvorgang wird ein sinnliches Spiel mit den auf diese Weise entstehenden Formgebilden und den assoziativen Wirkungen. Die naheliegende Verwunderung darüber, welche merkwürdigen Lebensformen es in der Natur gibt, etwa bei den Mikroben des Sumpfes, verwandelt sich mit diesen Arbeiten in eine eigenwillige, fröhliche Weltsicht. Die Assoziationen zu realen und vorstellbaren Wesen schaffen eine Bezugsebene, auf der das Phantastische ins Handwerkliche weist, und das Handwerk eine phantasievolle, skurrile Dimension bekommt. Eine eigene Welt entsteht, in der es konstruktiv und auch spielerisch zugeht. Die als Kupferpanzer auf Holzkern gebauten Körperchen mit gekreuzten Beinchen und Fühlern aus Kupferstangen sind naive, skurrile Wesen, ebenso wie Göttinnen, deren Leben und Aktionsvermögen durch Scharniere, Gewinde, durch Radform, Sägeblatt ausgedrückt wird. Das Rad spielt immer wieder eine besondere Rolle, als Movens von äußerer und innerer Aktion bekommt es konstruktive und zugleich wesenhafte Bedeutung, so daß sich aus büstenartigen Rad-Postamenten eine “Kleine Gesellschaft” ergibt.
Wenn man so will, ist die Kreatur und ihre Morphologie, ihr Kampf ums Dasein und ihre Mystifikation tragisch oder heilig, und wenn man so will, ist sie komisch. Der Form- und Situationscharakter ist einerseits zugemessen und beliebig, andererseits sind Wirkungen, die zum Grotesken und Komischen oder auch zum Erhabenen, Sentimentalen ausschlagen, unwillkürlich. Wo es langgeht, hängt ab von der eigenen Auffassung, von der Distanz zu den Dingen, von der Ausdrucksform. Das Spiel mit den Formen, Bedeutungen, mit dem Material und den Verarbeitungstechniken bedarf immer einer Pointierung, die aber nie zur Pointe werden darf, durch die das Spiel nach einer Seite, einer Bedeutung, einem Materialanreiz kippen würde, ins vulgäre Kalkül, in dem simplen Einfall oder ins Dekorative. Eine klare Haltung zu Materialien und zur Bearbeitung verbindet sich mit dem geistigen Spiel, das zwischen Bedeutungsanalogien und Wirkungsmöglichkeiten changiert und die Balance hält.
Annette Tucholke hat schon am Anfang ihres Künstlerweges die Demarkationslinie der traditionellen Bildhauerei überschritten, ohne aber in eine konzeptuelle Richtung zu gehen. Die Bodenhaftung der eigenen Sinnlichkeit und der – von ihr intelligent überspielten – Schwere handwerklicher Materialbearbeitung sind ihr wichtig geblieben.
Dr. Jens-Peter Semrau